Anfang der achtziger des vergangenen Jahrhunderts.
Köln.
Als zweiter Spross einer kinderreichen Familie mit wenig Geld jeden Sommer mit der Kinderlandverschickung einer Wohlfahrtsorganisation für drei Wochen irgendwo in Deutschland in die Sommerferien fernab der Familie geschickt. War eigentlich immer gut, glaube ich. Und obwohl die Betreuer durchaus schon Erwachsene waren, waren sie doch junge Erwachsene. Und immer cool, sofern es das Wort schon in meinem Wortschatz gab. Tolle Typen. Locker, aber auch absolut bestimmend, wenn die Horde heranwachsender nahezu unvermeidlich über die Strenge schlug.

Im letzten erlebten Jahr dieser Kinderlandverschickung, diesmal Plön, immerhin schon im stolzen Alter von 14 Jahren, ergab es sich, das ich noch für eine kurze Zeit nach den Sommerferien Kontakt zu der Betreuergruppe von Plön hatte. Keine Ahnung warum, eigentlich? Zwei von den im Sommer heranwachsende Kinder betreuenden Männern waren in Wirklichkeit echte Autofreaks und machten den Betreuerjob für Ferienkinder wohl nur, weil sie das Geld gut brauchen konnten. Vielleicht nicht nur, vielleicht hatten sie auch ein wenig Freude daran? Auch keine Ahnung.
Ihre echte Leidenschaft hing aber unzweifelhaft am Tuning ihrer Autos, FORD CAPRIs im besonderen. Schon damals, jetzt natürlich erst recht, ein bemerkenswertes Auto. Doch anders als heute bestand das Tuning damals nicht darin mit sauberen Fingern irgendwelche doofen Aufkleber oder Spoiler an einem sowieso schon perfektem Auto anzubringen oder elektronisch irgendwelche Chips zu frisieren, sondern ganz schnöde darin, dem für Normalbürger erschwinglichen Motor eines FORD CAPRI´s ein paar (mehr, viel mehr!) PS mehr zu entlocken. Ganz so wie es zuvor wohl jeder mit seiner Mofa gemacht hatte (Ich sage da nur: Ritzel, Vergaser, Auspuff…).
Im fortschreitenden Alter also vorzugsweise Autos mit einem Turbo-Lader ausrüsten!
Mit meinen zarten 14 Jahren hatte ich natürlich keine Vorstellung davon, was so ein Turbo-Lader eigentlich so sein könnte. Ich wusste nur, das Teil musste einfach cool sein. Absolut. Wenn solch coole Typen so ein Teil cool fanden und das irgendwie mit einigem Aufwand und reichlich schmutzigen Händen in ihre Autos einbauten, musste so ein Turbo-Lader einfach cool sein! (genug des cool…)
Die Werkstatt der beiden befand sich in einem dunklem Hinterhof in der Kölner Südstadt, zu Fuß von der Wohnung meiner Eltern gut erreichbar. Von der Straße aus durch eine enge Toreinfahrt in einen kleinen Hof, umgeben von den fünf- oder sechsstöckigen Wohnhäusern der Nachkriegszeit mit von der Großstadt verschmutzten verputzten grauen Fassaden. Direkt über der kleinen Werkstatt mit Hebebühne, Werkbank und dem obligatorischen Schrauber-Sofa befand sich praktischer Weise eine Wohnung die durch ein ebenso dunkles Treppenhaus erreichbar war. Ab und zu gab es da Bier, laute Musik und viele junge Menschen die so völlig anders waren als meine Eltern, Verwandten oder gar Lehrer. Zigaretten ohne Ende für die, die es mochten. Ich mochte keine.
220 PS durch Turbo-Lader blieben in klarer Erinnerung. Das Wort auch. Initial dauerhaft positiv besetzt. Die wahre Zeit und die wahren Verhältnisse liegen mittlerweile eher im dunklen. Ob ich diesen Turbo-Lader aber überhaupt jemals gesehen habe, weiß ich nicht mehr.

Ein Jahr später war es dann vorbei mit der jährlichen Kinderlandverschickung. Für die Sommerferien heuerte ich in Hamburg auf der CAP SAN DIEGO an, bereiste erstmals Südamerika und entschied mich dafür, Seemann zu werden.
Der Schiffsmotor der heute als seetaugliches Museumsschiff in Hamburg liegenden CAP SAN DIEGO hat in der Tat auch einen Turbo-Lader. Habe ich während meiner Zeit an Bord aber in acht Wochen nicht einmal gesehen. Die dazugehörige Schiffsmaschine übrigens auch nicht. Aber sie war wohl da – jedenfalls hörte man was und der ganze Dampfer vibrierte, wenn der Schiffsmotor lief.

Ungefähr dreißig Jahre später, die Zeit als Seemann schon fast vergessen, zerlegte sich unvermittelt der Turbo-Lader in meinem zu dieser Zeit befahrenen Dienstwagen, einem (Achtung, jetzt kommt es!) coolen CHRYSLER 300cc. Sehr unangenehm: Der Turbo-Lader verlor irgendwo sehr wenig Öl und das tropfte dann munter auf den heißen Abgaskrümmer und verseuchte so den Fahrgastraum mit Öldämpfen. Keine Chance auf Reparatur des Turbo-Laders. Nur auf vorzeitigem Vergiftungstot des Fahrers. Ein neuer Turbo-Lader für 2.000 Euro oder so löste das Problem, ohne das ich das Teil je gesehen hatte.

Fünfundreißig Jahre später, jetzt als in Begleitung zur See fahrender Mann, aber nicht Seemann, lasse ich in unsere Segelyacht STORMVOGEL in aller Eile einen brandneuen Motor mit Turbo-Lader im schönen VIGO (SPANIEN) einbauen. Entgegen dem Rat eines weisen und von mir sehr geachteten Mannes…
Siebenundreißig Jahre später lasse ich eben diesen erst zwei Jahre alten Turbo-Lader in PHUKET (THAILAND) für viel Geld vorsorglich durch einen neuen ersetzten…und packe den alten in eine Aluminiumkiste. Zur späteren Verwendung.

Erneuter Zeit- und Ortssprung: Elmshorn, März 2021.
Tiefstes aller Corona-Löcher Ever.
Eine paar Milliarden Kleinprojekte bereits erledigt. Unmittelbarer Beschäftigungsleerlauf droht. So was endet schnell in sehr langen und sehr langweiligen Tagen!

Da steht ja immer noch die Aluminiumkiste mit dem Anlasser und dem jungen Turbo-Lader vom STORMVOGEL in der Garage. Könnte man ja mal aufmachen, die Kiste zumindest. Und sehen, was man mit dem Inhalt anfangen kann. Ob man überhaupt was damit anfangen kann?
Zunächst ein paar kleine Turbo-Lader Lektionen via YOUTUBE. Nur, damit man ins Thema kommt, natürlich. Obwohl YOUTUBE mit der vielen Werbung langsam wirklich nervt, oder?
So lernt man in Sekunden den Begriff Waste-Gate – was für schönes Wort! Im englischen viel schöner als eine deutsche Müllklappe. Ach, ihr schön klingenden Fremdsprachen, wie ich euch vermisse! Wie ich die Menschen vermisse, die sie sprechen!

Nun, das Waste-Gate des STORMVOGEL Turbo-Laders sieht bei Lichte betrachtet doch recht mitgenommen aus. Nach Jahren des vor-sich-hin-gammelns in einer dunklen Aluminiumkiste.
Diagnose: Klarer Fall von Unterlast im damaligen Wirkbetrieb zwischen SPANIEN und THAILAND.
Da predigen doch alle Experten für Bootsmotoren, dass wir Skipper unsere Motoren auch mal eine Zeit lang ordentlich stressen sollten. Mindestens eine Stunde am Tag! Damit die Brüllaffen richtig heiß werden und die ganzen Ablagerungen im Abgaskanal endlich mal wie geplant auch wirklich verbrannt werden. Immer nur Marschumdrehungen (+/- 2.000 U/min) sei absolut tödlich. Dabei lieben unsere Bootsmotoren doch offensichtlich diesen Drehzahlbereich so sehr und schnurren dabei wie die Kätzchen, denkt sich so der im allgemeinen allwissende Skipper.
Nun, die Bilder dieses ersten STORMVOGEL Turbo-Laders sprechen wohl eine eindeutige Sprache?
Erst nach gründlicher Reinigung mit allen Arten von Drahtbürsten und einer mehre Tage andauernden WD40 Kur ließ sich das Waste-Gate wieder bewegen. So ein Turbo-Lader ist ja schon eine tolle Erfindung:
In jedem Verbrennungsmotor wird ein Kraftstoff (also Diesel oder Benzin) verbrannt. Damit überhaupt etwas verbrennen kann, ist bekanntlich Sauerstoff notwendig. Der ist Bestandteil der einfachen Luft, die wir auch so ohne darüber nachzudenken vor uns hin atmen.
Wenn man es schafft, mehr Luft (also auch mehr Sauerstoff) in die Brennkammern (also die Zylinder) zu bekommen, kann man auch munter mehr Kraftstoff explodieren lassen und dadurch bei gleicher Größe der Brennkammern (also dem Hubraum) mehr, sogar viel mehr Leistung (gemessen in PS, KW) aus der Maschine heraus holen.
Bei den Autos war das insofern interessant, als das die KFZ-Steuer nach Hubraum ermittelt wurde, nicht nach der tatsächlichen Leistung.
Daher kam man anfangs auf die Idee, einfach einen Kompressor anstelle der normalen Luftansaugung einzusetzen und dadurch mehr Luft (also Ladeluft) in den Brennraum zu pressen. Das Problem dabei: So ein Kompressor braucht auch wieder Energie. Vorzugsweise aus der Batterie. Wie blöd.
Doch eigentlich gibt es genug ungenutzte Energie im Abgasstrom eines Verbrennungsmotors. Mit einem dicken Lappen um die Hand gewickelt mag man mal versuchen, den Auspuff eines Autos bei laufendem Motor zu zu halten. Das gelingt nicht. Die Abgase wollen mit Wucht in die Umwelt, nach draußen. Ein Teil des allseits diskutierten Klimaproblems.
Also sitzt ein kleines Schaufelrad im Abgaskanal und dreht sich wie wild durch die ohnehin vorhandenen Abgase des Motors. Auf der gleichen Achse wie das Schaufelrad im Abgaskanal sitzt auf der anderen Seite ein weiteres Schaufelrad im Luftansaugkanal und schaufelt durch die Drehung im Abgaskanal so mehr Luft in den Brennraum, als der Verbrennungsmotor ohne dieses Schaufelrad ansaugen würde.
Je höher die Drehzahl des Motors, desto mehr Abgase, desto höher die Drehzahl des Turbo-Laders, desto mehr Luft (Sauerstoff!) im Brennraum, desto mehr Treibstoff kann verbrannt werden und um so größer wird die Leistung. Einfach grandios!
Doch irgendwann wird es zu viel und der Motor kann die viele Luft so gar nicht mehr gebrauchen.
Und erst dann schlägt die Stunde des Waste-Gates:
Entsteht zu viel Ladedruck, wird das Waste-Gate ein Stück geöffnet, der Abgasstrom entweicht und der Turbo-Lader dreht langsamer. Sehr schön, weil so gewollt. Weniger schön ist, das im unteren Drehzahlbereich der Turbo-Lader eigentlich zu wenig Luft ran schafft. Daher gibt es immer noch Motoren, die mit Kompressoren betrieben werden um auch im unteren Drehzahlbereich ordentlich Wums zu erzeugen. Aber nicht so der Motor an Bord des STORMVOGELS.

Wenn man jetzt noch verinnerlicht, das die Abgastemperaturen in denen das eine Schaufelrad dreht bei um und bei 1.000 °C liegen, wird wohl ein jeder einem Turbo-Lader ordentlich Respekt zollen müssen. Ganz pfiffige sind dann noch darauf gekommen, das kalte Luft ein geringes Volumen hat. Wenn man also noch einen Ladeluftkühler einbaut, bekommt man bei gleichem Volumen noch mehr Sauerstoff in die Brennkammer und somit noch mehr Leistung. Tolle Wurst. Und jetzt bauen sie langweilige elektrische Motoren in die Autos ein, ganz ohne Turbo-Lader, Ladeluftkühler oder Explosionen. Wie traurig.
Nun, die Instandsetzung des ersten STORMVOGEL Turbo-Laders ist mittlerweile abgeschlossen. Schön in WD40 eingelegt und in einen großen Baumwolllappen hat er seinen Platz in der Aluminiumkiste wieder eingenommen und wird frohen Mutes als jederzeit einsatzbereites Ersatzteil wieder an Bord gehen, sollte es noch mal auf Große Fahrt gehen.

In der Überschrift zu diesem Beitrag kommt das in diesen Monaten unvermeidliche „C“ Wort vor. Wieso denn bloß? Das ist einfach zu erklären: Diesen Beitrag gäbe es ohne Corona gar nicht! So einfach ist das. Der Turbo-Lader hätte weiterhin in seiner Alukiste in der Garage vor sich hin vegetiert, wir wären längst wieder auf Reisen und die kleine Geschichte aus Köln wäre nie aus der Erinnerungskiste im Kopf gekrochen.
Mit Sicherheit lief damals in Köln in der Wohnung über der Werkstatt im dort befindlichen TECHNICS High-End Tapedeck ein Band von PINK FLOYD. Mit Sicherheit Laut. Mit absoluter Sicherheit sehr laut.
So wie hier und jetzt.
PINK FLOYD gibt es zwar nicht mehr, weil das Ego von (älteren?) Männern leider viel zu oft wirklich gute Dinge zerstört, aber das derzeit letzte für die Nachwelt erhaltene Konzert von DAVID GILMOUR in POMPEJI 2017 kommt der Sache doch schon recht nahe.
Was für ein Glück.
Peter.
P.S.: Das in zwei aufeinander folgenden Beiträgen am Ende von Glück die Rede ist, liegt daran, das sie ursprünglich am gleichen Tag entstanden. Der eine war kurz und einfach, dieser hier hat dann halt länger gedauert…