CORONIA Selbstversuch

CORONIA weit und breit, keine Impfung, kein Gegenmittel in Sicht.

Weltweit läuft die Forschung nach einem Heilmittel auf Hochtouren, internationale Spitzenkräfte sind zuversichtlich, in den kommenden 12 Monaten eine Lösung zu finden. Doch Abseits der hoch bezahlten Schulmedizin, Abseits der High-Tech Labore in Europa, den USA und China gibt, es eine verwegene Gemeinschaft von verschwiegenen Kleingruppen von Selbsthilfeforschern die immer dann tätig werden, wenn die Not am Größten ist.

Durch Zufall fiel uns das geheime Tagebuch von Dr. Peter und Schwester Heidi in die Hände, aus dem wir hier weltexklusiv zitieren dürfen:

Freitag, der Dreizehnte:

Es wird Zeit. Wenn wir noch rechtzeitig unseren Forschungsstandort in Südfrankreich erreichen wollen, müssen wir unverzüglich aufbrechen! Im Idealfall können wir uns dort am Mittelmeer internieren lassen und unsere lang geplante dreiwöchige Forschungsreihe in aller Ruhe durchführen. Schwester Heidi hat bereits alles Notwendige zusammen gepackt. Aus Sicherheitsgründen reisen wir unbeobachtet und isoliert mit dem eigenen Auto, nur kein Aufsehen erregen!

Samstag, der Vierzehnte:

Die französische Grenze ohne Kontrolle überquert. Was für ein Glück! Hätten die Grenzpolizisten das Auto kontrolliert und unsere umfangreiche medizinische Ausrüstung gefunden, wären wir doch arg in Erklärungsnot gekommen. Insbesondere der kohlebetriebene mobile Hochofen hätte wohl Verdacht erregt. Am Abend ARBOIS im französischen JURA erreicht. Abgeschieden auf einem Campingplatz übernachtet, die Stadt bewusst gemieden.

Einsame Zwischenstation in ARBOIS

Die späte Nachmittagssonne verleitet mich dazu, vielleicht schon jetzt die anstrebte Selbstversuchsreihe zu beginnen. Doch Schwester Heidi interveniert energisch: „Aber Dr. Peter! Sie gefährden noch die ganze Versuchsreihe! Sie selbst haben immer wieder betont, wie wichtig optimale Umgebungstemperaturen und salzhaltige Seeluft für einen Erfolg unserer Mission sein. Nein, nein. Halten Sie durch!“

Sonntag, der Fünfzehnte:

Ziel nicht erreicht. Falsche Route durch die Berge gewählt. Wie deprimierend. Müssen an der ARDECHE übernachten. Vor uns ein Wohnmobil aus ITALIEN. Die Insassen sind nicht zu sehen, wir hören aber auch kein Röcheln oder Husten aus dem Fahrzeug. Schwester Heidi ist davon überzeugt, dass jemand an Bord ist. Bloß Abstand halten, damit die Ausgangsvoraussetzungen der geplanten Versuchsreihe nicht kurz vor Beginn verfälscht werden.

Montag, der Sechzehnte, am frühen Abend:

Endlich! Das Mittelmeer in der Nähe von SETE erreicht! Das Sicherheitspersonal unserer Forschungseinrichtung direkt am Strand empfängt uns mit leicht betretener Miene. Später am Abend wird der französische Präsident zu seinem Volk sprechen. Es steht zu befürchten, dass sämtliche nicht staatlichen Einrichtungen geschlossen werden sollen. Nach gewohnt kurzer, messerscharfer Analyse entscheide ich mich dafür, unverzüglich die lange geplante Versuchsreihe zu beginnen! Schwester Heidi ist, wie so häufig in letzter Zeit, dagegen und warnt vor unvorhersehbaren Risiken. Was wenn etwas schief geht und wir am nächsten Tag abreisen müssen? Doch ich sehe mich zweifellos in einer Reihe mit Robert Koch, mit Louis Pasteur!

Montag, der Sechzehnte, am späteren Abend:

In Windeseile habe ich unser mobiles Labor vorbereitet: Den kohlebetriebenen mobilen Hochofen, die nicht elektrische Beleuchtung, die sichere Sitzgelegenheiten und natürlich die geheimen Versuchssubstanzen ausgepackt und aufgebaut.

Mobiles Labor in unserer Forschungseinrichtung am Mittelmeer

Im Schutze der sich nun überall ausbreitenden Dunkelheit die ersten Versuchssubstanzen geöffnet und mir oral zugeführt. Doch in der uns umgebene unglaubliche Stille habe ich das markante Öffnungsgeräusch der in einem metallischen Zylinder aufbewahrten Substanz nicht bedacht. Schwester Heidi schreckt alarmiert hoch: „Dr. Peter, sind Sie sicher dass sie diese schwere Bürde nach dem Anreisestress jetzt schon auf sich nehmen wollen?“

Montag, der Sechzehnte, noch später am Abend:

Vor einiger Zeit habe ich bereits noch eine zweite Probe aus einem anderen metallischen Zylinder der gleichen Substanz zu mir genommen. Danach einige kleine Schlucke einer besonders ekligen Substanz mit größter Willensanstrengung zu mir genommen. Um den widerlichen Geschmack erträglicher zu machen, hat Schwester Heidi der Substanz ein markantes Lakritz Aroma beigemischt, warnt aber bei jedem Schluck vor weiterer Aufnahme.
In Anbetracht der hastig durchgeführten, nervenaufreibenden und kräftezehrenden Versuchsreihe musste ich eine kurze Pause einlegen. Schwester Heidi serviert zu totem Tier vom kohlebetriebenen mobilen Hochofen frische Grünwaren aus lokalem Anbau. Doch keine Zeit zum wirklichen Genuss. Der Versuch muss unbedingt weiter geführt werden!

Montag, der Sechzehnte, an der Grenze zu Dienstag, dem Siebzehnten:

Endlich konnte ich wie geplant auf die Dritte Substanz der Versuchsreihe umstellen. Die jetzt verwendete dünnflüssige, rote Substanz stammt zwar aus lokaler Produktion, wurde aber von mir sorgfältig ausgewählt und auf etwaige Wechselwirkungen mit den anderen beiden Substanzen untersucht.
Trotz der späten Stunde besteht Schwester Heidi auf Reinigung der aller Versuchsgeräte. Das stellt mich vor ungeahnten Herausforderungen, scheinen doch die mir selbst verabreichten Substanzen Einfluss auf die Erdrotation und Erdanziehungskraft zu nehmen! Nur unter größten Mühen erreiche ich die Reinigungsstation am anderen Ende unseres Forschungsstandortes und erledige heroisch die gestellt Aufgabe.

Gut getarneter Hochsicherheitszaun (rechts im Bild) unserer Forschungseinrichtung

Dienstag, der Siebzehnte in tiefer Nacht:

Schwester Heidi notiert eifrig in ihr Versuchsprotokoll: „Dr. Peter ist nicht mehr Herr seiner selbst! Versucht, sich nur noch sitzend fortzubewegen. Offenbar beeinflussen die verabreichten Substanzen sämtliche Muskeln, sogar der Sprechmuskel scheint betroffen zu sein. Das war so nicht absehbar! Vermutlich befördern die lauen Nachttemperaturen sowie die stark salzhaltige Seeluft die Wirkung der Substanzen. Aber ich habe ihn ja gewarnt!“
Ich fühle mich gut – so gut wie schon lange nicht mehr! Doch plötzlich und unvermittelt überfällt mich mit einem Schlage eine ungeahnte heftige Müdigkeit. Vermutlich wirkt nun die zweite, markant nach Lakritze schmeckende Substanz.

Dienstag, der Siebzehnte, am frühen Morgen, noch dunkel:

Oh, mein Kopf! Oh, mein Kopf! Schwester Heidi! Sie müssen mir helfen! Doch ich brauche gar nicht laut nach ihr zu rufen. Zu meiner Verwunderung liegt Schwester Heidi gleich neben mir im Versuchsbett. Oh je, habe ich in der Nacht eventuell die Kontrolle und jeden Anstand verloren? Schwester Heidi, völlig schläfrig, gibt mir kryptische, kaum verständliche Tipps, wie ich den Notfallkoffer mit Betäubungsmitteln in fester Form in unserem mobilen Versuchslabor finden könnte. Unter Einnahme einer weiteren Substanz, die nichts, aber auch gar nichts mit den in der Nacht zu mir genommenen Substanzen gemein hat, nehme ich die festen, schmerzbetäubenden Mittel einsam zu mir. Schwester Heidi besteht darauf, das zu dieser frühen Stunde ihre Arbeitszeit noch nicht begonnen habe, kann aber auch nicht plausibel erklären, wieso sie neben mir im Bett liegt.

Dienstag, der Siebzehnte, Sonnenaufgang:

Die horizontale Ruhelage ist trotz der Schmerzmittel unbefriedigend. Schwester Heidi keine wirkliche Hilfe. Ich kleide mich an, umwickle mich gegen die Morgenkälte mit einer dieser sterilen Versuchsdecken und setzte mich in die frühe Morgensonne. Schon besser. Aus dem mobilen Labor meldet sich Schwester Heidi: „Ich hab´ es Ihnen ja gesagt, Dr. Peter! Ich hab´ es Ihnen ja gesagt! Passen Sie auf! Nun müssen Sie eben mit den Folgen leben! Machen Sie mich nicht dafür verantwortlich!“
Mein Gehirn, zu sehr von Schmerzen und Schmerzmitteln gelähmt, produziert keine adäquate Antwort. So ist es ja immer mit heroischen Selbstversuchern. Einsam, schmerzhaft einsam muss um jede neue Erkenntnis gekämpft werden. Kann ich einen klaren Gedanken fassen, beschäftigt mich die drängende Frage, welche der drei Substanzen diese verheerende Wirkung verursacht haben könnte? Lag es an der Reihenfolge? Oder war es schlicht die Menge? Wieso ist Schwester Heidi entgegen strikter Weisung nicht energischer eingeschritten? Warum hat Schwester Heidi nicht auf die Einnahme der klaren, völlig geschmacklosen vierten mitgeführten Hilfssubstanz bestanden? Fragen, die einer Antwort bedürfen!

Dienstag, der Siebzehnte, am frühen Vormittag:

Nach dem Schwester Heidi kommentarlos das Bett geräumt hat, versuche ich erneut die horizontale Lagerung meines Körpers. Doch ich finde keine Ruhe. Schwester Heidi tuschelt und kichert mit den Nachbarn. Worüber? Warum?
So langsam wirken die Schmerzmittel und in mir reift der Gedanke, dass feste Nahrung eventuell zur weiteren Verbesserung meiner körperlichen Situation beitragen könnte. Schwester Heidi organisiert einige Stücke von diesem landesspezifisch endlos lang gezogenem Weißbrot und bereitet das Frühstück…noch während der nunmehr überlebensnotwendigen Nahrungsaufnahme erscheint das Sicherheitspersonal unserer Forschungseinrichtung und verkündet, das eben jene am Mittag des gleichen Tages geschlossen werden müsse. Der Präsident persönlich habe dies so verfügt.
Welches Drama! Welche Enttäuschung! Was hat bloß der französische Präsident gegen ein hoch motiviertes deutsches Eigenversucher-Forscherteam? Statt uns nun nach erfolgtem erstem Versuch ein, zwei Tage der Ruhe zu gönnen um dann erneut einen Versuch mit anderen Substanzen unternehmen zu können, zwingt uns der Präsident zu Abreise! Vermutlich gibt es eine undichte Stelle beim Sicherheitspersonal unserer Forschungseinrichtung. Wie sonst sollte der Präsident von unserem Versuch erfahren haben und unter dem Vorwand der CORONIA sämtliche private Forschungseinrichtungen unverzüglich schließen?

Unabdingbare Versuchszutat: Salzhaltige Seeluft

Dienstag, der Siebzehnte, mittags:

Nun denn. Wir beugen uns der angedrohten Gewalt und machen uns auf den Weg nach Norden. Umständlich und in Zeitlupe packen wir die Ausrüstung unseres mobilen Labors zusammen. Der kohlebetriebene mobile Hochhofen ist in einem verehrenden Zustand. Mittags endlich, sind wir reisefertig. Wir kommen gut durch die leeren Straßen, doch ob der späten Abreise erreichen wir am Abend nur einen Schlafplatz an der Rhone, immerhin nördlich von Lyon. Schwester Heidi zeigt sich beeindruckt von meiner körperlichen Leistungsfähigkeit und meinem deutlich erklärten Verzicht auf die Einnahme weiterer Substanzen.

Mittwoch, der Achtzehnte:

Die Nacht an der Rhone verlief völlig ruhig, einsam und vor allem Erholsam! Schwester Heidi notiert in ihr Labortagebuch: „Dr. Peter macht jetzt wieder einen völlig stabilen Eindruck. Der Selbstversuch am Mittelmeer scheint keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben.“
Die Situation im Land der Franzosen ist beängstigend. Mein umfangreiches Wissen als professioneller Selbstversucher habe ich aus vielen Endzeitfilmen zusammen getragen. Jetzt sind wir mit unserem fahrenden Labor selbst Teil einer solchen Situation. Leere Straßen, keine Einwohner zu sehen. Kaum, teilweise sogar gar kein Autoverkehr. Wenn die vielen Polizisten, die an jedem Kreisverkehr aufs Neue prüfen, in welche Richtung wir tatsächlich fahren, wüssten, welch bahnbrechende Erkenntnis ich am Mittelmeer gewinnen konnte! Ich behalte mein Wissen selbstverständlich für mich und habe auch Schwester Heidi auf strikte Verschwiegenheit verpflichtet, so lange wir im Ausland sind.
Den Abend verbringen wir auf einem Sportplatz in der Nähe der deutschen Grenze. Der Grenzübertritt muss gut geplant und in Ruhe durchgeführt werden, gilt es doch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse sicher in die Heimat zu bringen!

Donnerstag, der Neunzehnte, am frühen Morgen:

Nahrungsbeschaffung bei einer lokalen Bäckerei. Schwester Heidi verspürt eine ablehnende Haltung gegenüber uns fremden. Oder ahnen die Mitarbeiterinnen hinter dem Tresen, welche Geheimnisse Schwester Heidi vor ihnen verbirgt?
Die Grenze: Ein Stau, ein Stau! Die Deutschen machen die Grenzen dicht! Eine Katastrophe! Ein Anruf beim deutschen medizinischen Geheimdienst DMG schafft Klarheit. Wir dürfen passieren. Schwester Heidi ist beruhigt. Deutschland! Nun sind wir sicher.

Donnerstag, der Neunzehnte, am Tage:

Merkwürdig. Wieso sind auf deutschen Straßen so viel mehr Fahrzeuge unterwegs? Ist die CORONIA hier bereits überwunden? Sind unsere mühsam erworbenen Erkenntnisse unseres Mittelmeerversuches bereits überholt, gar wertlos?
Wir wollen nur noch ankommen. Schwester Heidi steht elektronisch in permanenten Kontakt zu anderen Wissenschaftlern und Laboren – doch niemand weiß genaueres.

Donnerstag, der Neunzehnte, am Abend:

Wir erreichen erschöpft nach der langen Fahrt unser geheimes Labor in der Nähe der deutschen Nordseeküste und werten noch in der Nacht unsere Versuchsergebnisse aus. Gut 3.000 Autokilometer in 7 Kalendertagen. Drei Substanzen in verschiedenen Dosen im Selbstversuch eingenommen, eine starke, kaum kontrollierbare Reaktion mit sehr überraschenden Nebenwirkungen unter besonderen mediterranen Bedingungen erzielt.

Zeitsprung. Dienstag, der Vierundzwanzigste, Epilog:

Wir zögern immer noch, unsere genauen Versuchsergebnisse in den Fachmedien (Bild, Autor-Motor-Sport, RTL II) zu veröffentlichen. Eigentlich müsste ich unter der strengen Aufsicht von Schwester Heidi noch sieben weitere Tage in Selbstquarantäne verbringen, doch bisher bin ich völlig frei von Symptomen. Daher gehen wir bereits jetzt mit ersten Erkenntnissen in die Öffentlichkeit. Die Sorge, andere könnten uns zuvor kommen und unsere Mühen überflüssig werden zu lassen, treibt uns an. Schwester Heidi hat, in einer Art wissenschaftlichen Höchstleistung die ihres Gleichen sucht, sämtliche Daten meiner Tabellen, Notizen und Skizzen in nur fünf Wörter kondensiert:

ALKOHOL IST AUCH KEINE LÖSUNG

Ach, Schwester Heidi, seien Sie doch nicht so! Immerhin lagen wir schon mal im gleichen Laborbett…ach, Schwester Heidi!

Es war ein Versuch wert! Die CORONIA muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Und schließlich: Bin ich nicht völlig frei von den bekannten Symptomen? Ist das etwa kein Erfolg?

Was sagen Sie jetzt, Schwester Heidi?

mit freundlichen Grüßen, Doktor Peter.

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