Teil 2
Das grüne Hemd mit schwarzen Streifen trägt Randy vielleicht noch, doch die vielen Kleidungsschichten darüber lassen das nur erahnen. Man muss auch dreimal hinsehen, bis man den Musiker in der seiner aktuellen Rolle als Bootsführer erkennt. Die schlechten Zähne helfen.
Während die passagierenden Expediteure rote Jacken tragen (so sie denn passen), trägt das Expeditionsteam dunkel blaue Jacken. Und Sonnenbrille und Hoddis, um die Kälte auch aus dem Gesicht fern zu halten.

Mit ähnlich roboterhaften Bewegungen wie am CASIO Keyboard in der SEABREEZE LOUNGE steuert Randy auch das große MILPRO ZODIAC Dingi mit seinem 40 PS YAMAHA Außenbordmotor. Die Steuerung von so einem Gummiboot bedarf bei Seegang, Wind und Eis schon eines besonderen Geschicks oder besser noch Übung. Alle Mitglieder des Expeditionsteams müssen einen Führerschein für die Steuerung von diesen klobigen Schlauchbooten nachweisen. Aber so ein Befähigungszeugnis ist noch lange keine Garantie dafür, dass man mit den Booten auch wirklich umgehen kann. Wie so oft im Leben macht Übung den Meister.
Drei Teams kümmern sich an Bord der SEAVENTURE um das Wohl der bis zu 139 Expediteure. Zum einen natürlich die normale Schiffsbesatzung mit Kapitän, Offizieren, Ingenieuren, Mechanikern und Matrosen. Meistens unsichtbar. Das größte Team betreibt das Hotel. Also Zimmerservice, Küche, Bar, Bedienung und Rezeption. Die kleinste Gruppe ist das Expeditionsteam mit in etwa 20 Personen. Viele haben Doppelfunktionen, wie eben Randy, unser Dingi fahrender Bordmusiker.

Danny hingegen leitet das Expeditionsteam und wenn man ihn so sieht, würde man das schlicht nicht für möglich halten. Expeditionsleiter. Ganz schön starker Titel. Kein Astralkörper, keine sturmerprobte Frisur, kein stets in die Ferne gerichteter kühner Blick. Äußerlichkeiten. Dafür ist er seit über 15 Jahren im Geschäft, kennt die möglichen Ziele in der ANTARKTIS seit Jahren aus eigener Anschauung und hat als Brite einen besonderen selbstironischen Humor mit dem er seinen Führungsanspruch gegenüber Team und Passagieren seit der ersten Minute mit coolem Unterstatement manifestiert.
Denn so eine Expedition mit passagierenden Expediteuren in die ANTARKTIS ist ein hochdynamisches Unterfangen. Selbstverständlich gibt es so etwas wie einen Plan, aber Wind, Seegang und Wetter ändern sich hier im Stundentakt und Danny muss bei der Festlegung der Landausflüge jederzeit davon ausgehen, dass sich die Bedingungen verschlechtern und er seine Gäste nicht mehr sicher zurück an Bord der SEAVENTURE bekommt.

Jeden Abend hält Danny in SEABREEZE LOUNGE gegen 1730 ein „Recap & Briefing“ Treffen ab. Zum einen werden die Ereignisse das aktuellen Tages kurz reflektiert, zum anderen wird der Plan für den kommenden Tag vorgestellt. Aber eben nicht ohne in jedem zweiten Satz zu erwähnen, das sich dieser Plan jederzeit ändern kann. Typisch amerikanisch: Durch ständige Wiederholung von bereits gesagtem gelangt die zu sendende Nachricht auch wirklich in jedes Hirn der lauschenden passagierenden Expediteure. Die Herausforderung für nicht Muttersprachler: Bei den vielen Witzen zwischendurch das Wesentliche aufschnappen. Danny ist sicher sehr erfahren und fachlich hervorragend, aber er ist eben ein noch besserer Entertainer und fesselt jeden Gast mit seinen Ausführungen.
Damit der Informationstransfer nicht zu einer Einbahnstraße gerät, können alle jederzeit anonym Fragen aufschreiben und in einen Briefkasten stecken. Jeden Abend wird der geöffnet und Danny beantwortet zum Abschluss seines Vortrags geduldig jede Frage. In jedem Fall. Wenn also jemand wissen will, zu welcher Gattung die heute gesehenen Pinguine gehören, dann wiederholt er das bereits an Land gesagte. Bei Anlandung eines jeden Dingis erläutert Danny jeder Bootsbesatzung erneut was es hier genau zu sehen gibt.
Aber auch wenn gefragt wird, wie lange die Lebensmittel und Alkoholvorräte an Bord wohl reichen würden (Antwort „sehr lange“ ist unzulässig) und wie man am besten eine Meuterei anzetteln könnte, dann gibt es auch dafür eine Antwort: Die Vorräte reichen sehr lange und mögliche Meuterer sollten wissen, dass die Messer in der Kombüse lang seien, sehr lang.

Das Team um Danny versucht täglich zwei Expeditionen für die passagierenden Expediteure anbieten zu können. Direkt nach dem Frühstück und später dann nach dem Mittagessen. Hört sich gut an, führt aber auch schnell mal zu Stress bei den passagierenden Expediteuren. Schließlich müssen zum Kälteschutz mehrere Kleidungsstücke übereinander geschichtet werden. Die letzte Schicht besteht aus wasserabweisendem Material. Ferner werden riesige Gummistiefel und eine Rettungsweste angelegt. Mit dieser Ausrüstung könnte man vermutlich dann auch zum Mond fliegen.
Für normale Expediteure stehen Landgänge und Bootsfahrten auf dem Programm. Diejenigen, die gerne im Angesicht von Eisbergen in einem KAJAK sitzen möchten werden separiert. Immerhin so viele, dass es gleich zwei KAJAK Gruppen gibt. Über fünfzig passagierende Expediteure haben eine Übernachtung („Camping“) im Eis gebucht. Auch so eine Sonderlocke. Und schließlich gibt es dann noch den POLAR PLUNGE am HEILIGEN ABEND, bei dem man buchstäblich bis zur letzten Minute überlegen kann, ob man sich dieses schockierende Abenteuer wirklich gönnen will.

Der POLAR PLUNGE ist so eine Art Mutprobe:
Traut man sich wirklich in normaler Badebekleidung ins Eiskalte Wasser zu springen?
Darauf legt Danny wert. Auf die ordnungsgemäße Badebekleidung. Er habe da Dinge erlebt…
Was für ein riesiger Aufwand!
Zunächst steuert der Kapitän der SEAVENTURE den Dampfer in ein Fahrwasser, in dem viele kleine Eisberge herumtreiben. Derweil hält die Ärztin des Expeditionsteams einen langen Vortrag über Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Schock-Sprungs. Wohl auch zur Abschreckung. Als gefragt wird, ob schon mal was passiert sei, lacht die Ärztin verneinend. Dann werden drei Dingis zu Wasser gelassen. Von einem wird gesprungen, im anderen sitzt der Bordfotograf, der wie üblich die ganze Szenerie ablichtet und die Besatzung des dritten Dingis passt darauf auf, dass die POLAR PLUNGER nicht in einen kleinen Eisberg springen.
Und so springen gut sechzig passagierende Expediteure mutig und gesichert an einem Seil ins Eiskalte Wasser. Von der kundigen Besatzung werden sie in Sekunden wieder zurück an Bord gezogen.
Der junge Mann aus ISRAEL hat sogar noch einen Trick mehr drauf. Fliegt da einfach so im Schneidersitz durch die Luft. Oh Mann, wie beeindruckend muss man heutzutage in dem Alter bloß sein?
Einige springen sogar mehrmals.
Der weibliche Teil der kleinen Reisegruppe gibt sich beim Anblick der mutigen älteren Männer die da furchtlos ins Wasser springen größte Mühe, den männlichen Teil nicht unter Druck zu setzten. Sicher, sie hätte gerne ihren Fahrer leiden sehen, weiß aber auch um Risiken und Nebenwirkungen.
Der Fahrer überlegt in der Tat, aber nur sehr kurz. Zu präsent sind noch die Erinnerung an das Eisbad auf SAMSÖ um das Bugstrahlruder des STORMVOGELs zu inspizieren. Alles hat seine Zeit. Und seinen Grund.

Dagegen sind die Ausflüge mit dem Dingi reinste Erholungsfahrten. Drei Matrosen helfen bei dem Einsteigen in das Schlauchboot und es ist vermutlich unmöglich, sich dabei zu verletzten oder gar in das Wasser zu fallen. Je Boot maximal 10 passagierende Expediteure, fünf auf jeder Seite. Angenehmem und zu keinem Zeitpunkt Gedränge. Und wenn einer der Bootsführer zu dicht an brechende Eiskanten heran fährt kommt schnell der mahnende Funkspruch, Abstand zu halten! Maximaler Sicherheitsgedanke, denn wenn so ein Teil abbricht, wird die Welle das Dingi zum Kentern bringen.
Landausflüge laufen ähnlich ab. Helfende Hände beim Verlassen des Schiffes, noch mehr helfende Hände beim Anlanden. An Land steigt man immer zuerst ins Wasser, aber die großen Gummistiefel halten dicht und nichts wird nass. Die ersten beiden Landgänge (ELEPHANT ISLAND und DECEPTION ISLAND) finden bei Besten Voraussetzungen an flachen Sandstränden statt. Vermutlich implizites Training aller Beteiligter, denn später wird es deutlich schwieriger.
An Land hat des Expeditionsteam zunächst die erlaubten Laufstrecken mit Roten Fähnchen markiert bevor die ersten passagierenden Expediteure anlanden und sich als Entdecker fühlen.
Nach Rückkehr auf die SEAVENTURE werden die Sohlen der Gummistiefel mit einem Hochdruckreiniger abgespült, Stiefel und Hose werden im unteren Bereich von einer Bürstenwaschanlage gereinigt und ganz zum Schluss stapft man mit den Stiefeln noch mal durch die Desinfektionslösung, die man auch vor Verlassen des Schiffes durchlaufen hat.

Danny hat unmissverständlich klar gemacht:
Durch seine Expeditionen werden keine Krankheiten von einer auf die nächste Insel weitergetragen. Nichts von Land mitnehmen. Höchstens Müll. Wenn man unsicher ist, fragen. Nichts an Land zurücklassen. Es wird protokolliert, wann genau welches Kreuzfahrtschiff an welchem Ort an Land war.
Der zweite Landgang auf DECEPTION ISLAND ist sicher spektakulär, doch emotional bewegend. Schließlich kennt die Reisegruppe persönlich Segler, die hier mal im Winter gestrandet sind und unter schwierigsten Bedingungen überlebt haben. Einer der beiden ist vor kurzem gestorben.
Der Landgang am PALAVER POINT dagegen ist wenig spektakulär. Der Ort wurde gewählt, weil die Wetterbedingen der Campinggruppe ihre Nacht im Eis erlauben. Dazu werden Berge von Matten und Schlafsäcke an Land geschafft. Als die normalen passagierenden Expediteure längst wieder in der SEABREEZE LOUNGE der Musik von Randy folgen, fängt auf dem Eis das große bibbern an.

Wie von Danny vorhergesagt:
Die Eisschläfer haben kein Auge zugemacht. Die Geräusche von knackendem Weis, dem Blasen der Wale und das schnattern der Pinguine sind zu aufregend, als dass die Augen zufallen könnten. Adrenalin toppt Kälte und Müdigkeit. Bereits um 0500 am kommenden frühen Morgen werden die Eisschläfer zurück an Bord gebracht. In absoluter Stille. Schließlich muss die SEAVENTURE den nächsten Programmpunkt für den Vormittag ansteuern.
Der geplante Landgang in PORT LOCKROY wird buchstäblich in letzter Minute abgesagt. Alle passagierenden Expediteure sind komplett angezogen und abmarschbereit. Satte 30 Knoten Wind stehen auf der Felsengespickten Landungszone der kleinen britischen Station und das stets mit Danny besetzte Erkundungsboot konnte keinen sicheren Landgang bekunden.
Das ist enttäuschend.
Zum einen hätte man dort einen offiziellen ANTARKTIS Stempel in seinem Reisepass bekommen können, zum anderen gibt es dort ein Postamt, das Postkarten zum weltweiten Versand entgegennimmt. Mit ANTARKTIS Stempel, natürlich. Und ein kleines Geschäft gibt es da auch noch. Ganz schön viel TamTam für zwei Hütten mitten im Nirgendwo.

Als Trostpflaster steuert der Kapitän die SEAVENTURE an diesem Vormittag durch die beiden spektakulären Kanäle LEMAIRE CHANNEL und NEUMAYER CHANNEL. Immer noch verdammt viel Wind, aber erstmals wirklich blauer Himmel und klasse Wolken dazu.
Bei der Anlandung auf CUVERVILLE ISLAND dauert die Ansprache von Danny für die Neuankömmlinge etwas länger. Er habe am PALAVER POINT gesehen, das einige kräftige Gäste tief in dem Schnee eingesackt seien und die tiefen Löcher nicht wieder verschlossen hätten. Das sei aber wichtig: Die kleinen Pinguine könnten dort hineinfallen und sich aus dieser Falle nicht wieder befreien.
Wen Danny wohl mit damit gemeint haben könnte? Die Beifahrerin oder den Fahrer? Oder andere? Na ja, auf jeden Fall hinterlässt der Fahrer auf CUVERVILLE ISLAND keine metertiefen Pinguinfallen.
Und das ist es wohl, was eine solche „Expedition“ von einer normalen Kreuzfahrt unterscheidet. Extrem viel Programm, kein fester (Zeit)Plan, große Dynamik in den Abläufen und den spürbar starken Willen der Veranstalter, den Gästen das maximal erlebbare zu präsentieren und sich selbst keine Ruhe zu gönnen.
Randy, der arme Tropf, steht nach jedem Abendessen wacker an seinem CASIO Keyboard und singt seine Lieder. Bis weit nach 2300.
Egal, wie anstrengend der Tag für ihn war.
FORTSETZUNG FOLGT
Peter.