Teil 1
Ein Mann.
Ein wirklich kleiner Mann, nicht mehr als hundertfünfundsechzig Zentimeter groß. Oder klein. Je nach Sichtweise.
Deutlich schütteres Haar, vielleicht Mitte vierzig? Oder gar älter? Grünes Hemd mit zahlreichen schwarzen Streifen, die dem ganzen Hemd einen afrikanischen Touch geben. Dunkle Hose.
Dieser Mann bedient gerade mit flüssig wirkenden Bewegungen ein CASIO Keyboard, das wiederum auf einem echt wirkenden Klavier unbekannter Marke in der SEABREAZE LOUNGE an Bord der MS SEAVENTURE steht. Zu finden im hinteren Teil des kleinen Kreuzfahrtschiffes auf Deck fünf.
Große Fenster zu beiden Seiten ermöglichen einen weiten Blick auf die grau und trübe daher kommende DRAKE PASSAGE, der berüchtigten Meerenge zwischen KAP HOORN und der ANTARKTIS.

Zu wirklich schlecht gemachtem Halbplayback spielt der Mann mit deutlich schütterem Haar elektrisches Klavier, singt, manchmal spielt er aber auch elektrische Gitarre. Aber immer so, das man seine Finger dabei nicht sieht.
Als er am ersten Abend etwas von MODERN TALKING spielt, wird die von Drogen mühevoll unterdrückte Seekrankheit des Schreiberlings kurz mal akut. Direkt danach spielt der Mann mit dem schütteren Haar etwas von Clearance Clearwater Revival und der Magen des Schreiberlings beruhigt sich unvermittelt wieder. War doch gar nicht so schlimm!
Keine Ahnung, ob so was nur am Ende der Welt passiert. Oder passieren kann.

Also mal im Ernst. Wie kann er, der vermutlich einzige Musiker im Umkreis von eintausend Kilometern MODERN TALKING und CCR direkt hintereinander darbieten? Beruft er sich etwa auf das Recht desjenigen, der die Tasten und das Mikrofon bedienen kann?
Kommt ein korpulenter Mann aus Indien an den Tisch der kleinen Reisegruppe, die in der SEABREEZE LOUNGE eigentlich nur ganz entspannt den ersten Abend ihrer kleinen ANTARKTIS EXPEDITION verbringen wollte. Liegt die Bar doch auf dem gleichen Deck wie die mittschiffs gebuchte Kabine und ist somit jederzeit ohne Treppenstufen auf ebenerdigen Wege schnell zu erreichen.

Überschwänglich berichtet der Mann aus Indien von seinem OKTOBERFEST Erlebnis in München als er erfährt, dass die kleine Reisegruppe aus DEUTSCHLAND stammt. Was für eine Energie, was für einen Enthusiasmus, den dieser umfangreiche Mann hier versprüht. Jetzt lebt er in SAN FRANCISCO und ist mit seinem beiden Söhnen auf Weihnachtsreise ins ewige Eis. Später stellt sich heraus, dass dieser korpulente kommunikative Mann aus Indien jederzeit die Wahl zum Passagierpräsidenten ohne Gegenkandidaten mit einer Wahlbeteiligung von einhundert Prozent und einhundert Prozent Zustimmung hätte gewinnen können. Aber manchmal reicht auch die normative Kraft des faktischen und es bedarf keiner Wahl.

Klar, diese überbordende Überschwänglichkeit zu Reisebeginn könnte auch am üppig fließenden Alkohol liegen?
ALL INCLUSIVE MADE IN USA.
Oder liegt die ausgelassene Stimmung eher an den vielfältigen Medikamenten gegen Seekrankheit, die fast alle Passagiere im Angesicht der oft stürmischen DRAKE PASSAGE eingenommen haben?
Nach eingehender Analyse und gewissenhafter Abwägung aller bekannten Lehrmeinungen:
OK, es liegt am Alkohol.
Die beruhigend wirkenden Drogen machen es nicht besser.
Daher liebe Kinder: Bitte nicht nachmachen!

An einem anderen Abend spielt der Mann mit schütterem Haar am Mikrofon SAN FRANCISCO von SCOTT McKENZIE nach einem vermutlich chinesischen drögen Schlager. Selbst halbwegs gute Kneipenmusiker haben halt ein Gespür für die Vorlieben ihrer alkoholisierten Gäste. Während seiner noch laufenden Darbietung stellt sich ein junger schlanker Mann ganz in schwarz gekleidet, mit großer Silberkette um den Hals daneben und spielt gekonnt den Schlussakkord auf der CASIO Maschine. Irgendeinen Trick muss man zumindest im heiratsfähigen Alter eben draufhaben.
Der junge Mann saß vor vierzig Minuten noch am Nachbartisch der kleinen Reisegruppe ein Deck tiefer im einzigen Bordrestaurant an einem der raren Zweiertische und fragte unentwegt eine junge Frau aus. Er stammt aus ISRAEL und hat die fragende Gesprächsführung vermutlich beim MOSSAD gelernt?
Beide scheinen zur KAJAK Gruppe zu gehören und sie haben sich offensichtlich erst heute beim Briefing getroffen. Während die kleine Reisegruppe nur als einfache Expediteure angeheuert hat, haben andere KAJAK Touren oder sogar eine CAMPING Nacht als Zusatzpaket im ewigen Eis gebucht.
Der Mann mit dem schütteren Haar hat ohne jeden Zweifel die Funktion des einzigen Bordmusikers und müht sich als eben solcher sichtlich, dem Publikum zu gefallen. Sein nahezu emotionsloser Gesang mag zwar gut zur seelenlosen maschinell erzeugten Playbackmusik passen, doch leider kommt so etwas wie echte Stimmung beim Publikum nur selten auf. Während seiner Darbietungen wirkt sein Gesicht voll konzentriert, leicht gequält und somit leider auch völlig freudlos. Nur wenn es sehr vereinzelt mal Applaus gibt, lächelt er leicht verschmitzt, so als überrasche ihn die spontane Zustimmung.

Doch einen richtigen Joker, einen echten Hammerhit hat selbst dieser so traurig daherkommende Musiker mit schütterem Haar im Programm. Regelmäßig flippt das überschaubare Publikum bei SWEET CAROLINE von NEIL DIAMOND aus, singt mit, feuert an und treibt den ansonsten emotionslosen Menschen zu seinem allabendlichen emotionalen Höhepunkt. Vermutlich würde er am liebsten SWEET CAROLINE in Endlosschleife spielen? Doch das wäre wohl selbst für ihn eher unprofessionell.
Eingeweihte wissen:
SWEET CAROLINE wird in den USA bei so gut wie jeder Sportveranstaltung gespielt. Vorher, in den Pausen, Nachher. Einer der sehr wenigen Einheizersongs, die offenbar seit Generationen über Generationen hinweg gut funktionieren.
Die SEABREEZE LOUNGE liegt fast ganz am Ende der SEAVENTURE und erstreckt sich nahezu über die gesamte Breite des schlanken Schiffes. Nur zwei schmale Außengänge machen den Raum noch schlanker als das ganze Schiff. Die geräumige Bar bietet mit ihren gemütlichen Stühlen, Sesseln und Sofas Platz für alle Passagiere.
Sicher, wenn sich alle Gäste hier einfinden wirkt es eng. Besser eine enge voll Kneipe als eine große halb leere. Wenn nicht gerade ein Briefing (Vorstellung, Erläuterung) für das Programm am nächsten Tag ansteht, verteilen sich die knapp hundertvierzig Gäste an Bord ganz locker im gesamten Schiff. Zur Teestunde am späten Nachmittag oder nach dem Abendessen trifft man hier vielleicht vierzig oder höchstens fünfzig Mitreisende an. Optimale Raumnutzung.
Die kleine Bühne auf denen sich der Musiker mit dem schütteren Haar hinter seinen Instrumenten eher verschanzt als präsentiert befindet sich im vorderen Teil des Raumes. Leinwand, Scheinwerfer, Lautsprecher und Beamer vervollständigen die technische Ausrüstung. Der Haupteingang zur SEABREEZE LOUNGE befindet sich an Backbord (also in Fahrtrichtung des Schiffes links), der Nebeneingang durch die kleine Bordbibliothek an Steuerbord (rechts). Entlang der Fenster befinden sich große Sofas und Tische, in der Raummitte runde Sofas, Tische, Stühle und Sessel. Im hinteren Teil des Raumes befindet sich die eigentliche Bar mit einem relativ kleinen Tresen. Vielleicht nur sechs oder acht fest montierte Barhocker davor.
Hinter dem Tresen ist fast immer GORDON anzutreffen. Korpulenter als der Schreiberling und in der Regel noch finsterer dreinblickend. Barkeeper GORDON hat zwei Gehilfen hinter dem Tresen und so dauert es selbst bei großem Andrang keine zwei Minuten, bis man seinen bestellten Drink in der Hand hält.
Links und rechts des Tresens befinden sich schwere Außentüren um auf das kleine überdachte Achterdeck ganz am Ende des Schiffes zu gelangen. Die SEABREEZE LOUNGE ist in einem dezent Beige/Bräunlich Farbton gehalten, die lichtdichten Vorhänge an den Fenstern sind dunkel Violett. Erleuchtet wird der Raum von runden in der Decke eingelassenen Halogenstrahlern alter Machart. Überall robuster Teppichboden, wie man ihn aus großen Hotels auch kennt. Nur die Bühne verfügt standesgemäß über ein schickes dunkles Echtholzparkett.

Am dritten Bordabend läuft die SEAVENTURE in den ENGLISH CHANNEL ein. Die teilweise heftigen Schiffsbewegungen der Tage zuvor sind in Minuten vergessen, Kameras werden gezückt und im trüben Dämmerlicht werden triste schwarzweiße Landschaften abgelichtet. Pro Saison erreichen nur ungefähr 50.000 Expediteure wie wir diese weit entfernten Gefilde. Tendenz steigend.
Vielleicht erklärt sich die traurige Stimmung von dem kleinen Mann mit schütterem Haar hinter seinem CASIO Keyboard schlicht mit seiner belastenden Doppelfunktion?
Denn RANDY, so sein offiziell im Tagesprogramm ausgewiesener Künstlername, ist tagsüber auch noch Dingiskipper: In den Operationsgebieten steuert er eines der bis zu zwölf im Wasser befindlichen ZODIAC Schlauchboote mit maximal zehn Expediteuren an Bord.
Bei nasskalter, klirrender Kälte!
Ob ein solch brutaler Nebenjob zarten Musikerhänden zuträglich sein kann?
Ob RANDY, der jeden Abend auf der Bühne stehen muss überhaupt wusste, worauf er sich hier einlässt?
FORTSETZUNG FOLGT.
Peter.
Das hört sich doch alles sehr gut an. Viel Spaß weiterhin.
Gruß aus Taliouine. Südseite Hoher Atlas. Sind auf dem weg nach Ouzud, zu Maria und Jane.
Frank
Ahoi Frank,
dann bestelle doch bitte unbekannter Weise viele liebe Grüße an die beiden. Unvergesslich schöne Tage hatten wir dort. glg Peter.