SA2223: LAGO VINTTER

Der Wind weht wirklich heftig, viele dunkle Wolken am Himmel, es nieselt ein wenig und kalt ist es auch.

Wir sind auf knapp 1.000 Höhenmeter.

Wenn man irgendwo auf der Welt in kaltem Nieselregen ankommt und sich dennoch im ersten Moment mit jeder Faser des eigenen Körpers richtig wohl fühlt, dann ist man zweifellos an einem wirklich guten Ort!

Ankunft am LAGO VINTTER

Die 30 Pistenkilometer von RIO PICO nach LAGO VINTTER sind anspruchsvoll, aber machbar. Wir lassen uns Zeit und wissen ganz genau: Irgendwo, wo es vermutlich wirklich gut ist, werden wir ankommen. Wir sind ausgerüstet. Wir könnten ohne Probleme irgendwo für zwei, drei oder sogar vier Tage einfach so stehen.

Der letzte Eintrag in iOVERLANDER zu LAGO VINTTER ist vom Januar 2022. Ob da draußen am See überhaupt jemand ist?

Wir erreichen ein großes Gatter, das die Beifahrerin ordnungsgemäß öffnet und nach Passage auch wieder schließt. Ehrensache. Nach weiteren 2 Kilometern treffen wir einen Menschen. Zum Glück! Denn es ist Fernando, den wir treffen. Der Manager der weit verstreuten Anlage in Mitten der Wildnis.

Hier geht es zum NIKITA Campingplatz am LAGO VINTTER, Argentinien. Ok….?

Als er hört, dass ihn Heidi und Peter besuchen ist an eine ernsthafte Konversation nicht mehr zu denken. Zu sehr prägen ihn einschlägige Filme aus der Vergangenheit. Es wird an diesem Abend viel Gelacht und auch gefeilscht, denn Fernando möchte viel mehr Geld für eine Nacht haben, als die kleine Reisegruppe bereit ist zu zahlen.

Natürlich wird man sich einig und Fernando geleitet uns zu dem Besten Campingplatz, den wir bisher auf dem Südamerikanischen Kontinent gesehen haben: Jeder Stellplatz hat eine kleine Hütte, optimal gegen die vorherrschende Windrichtung ausgerichtet, eine Feuerstelle und jede Menge Holz davor. Sogar KEROSIN als Brandbeschleuniger finden wir in der Hütte. Bäume als Windschutz umzu.

Was für ein hervorragender Platz!

Stellplatz auf dem Nikita Campingplatz am Lago Vintter, Argentinien

Eine seriöse Unterhaltung mit Fernando kommt an diesem Abend nicht mehr in Gang. Ein Witz reißt den nächsten. Reifen sind das bevorzugte Thema. Es wird viel gelacht. Wie befreiend, nach dem noch quer im Magen liegenden Reifendesaster zuvor!

Nach Zuweisung des Platzes überlässt uns Fernando recht schnell uns selbst. Relativ ungemütlich, dieses Wetter. Der Fahrer entzündet in der halbrund gemauerten Feuerstelle ein Feuer, die Beifahrerin richtet das Abendbrot. Den äußerlichen Umständen zum Trotz, entwickelt sich ein durchaus guter Abend!

Am nächsten Morgen strolchen wir ein wenig auf den drei Wegen entlang des LAGO VINTTER umher und werden ob der grandiosen schneebedeckten Berge, ob der Rauen, ungeschliffenen Seenlandschaft, ob der riesigen, uralten Bäume entlang des Weges ein wenig demütig. Das hier ist unser Planet. Das ist unsere in diesem Universum einmalige Welt.

Wie schön, dass wir ein Teil davon sein dürfen!

Urwald am Lago Vintter, Argentinien

Am Abend gehen wir zum Spülen des schmutzigen Geschirrs des Tages zum Duschhaus. Denn der örtliche Hausmeister sorgt mit frisch gehacktem Holz jeden Abend für wirklich heißes Wasser. Wir spülen also wie ein lang bekanntes Paar so vor uns her…

…da erscheint Gretel.

Eine robuste Frau von (wie sich später heraus stellt) 80 (!) Jahren, die uns sofort, unmittelbar und ohne jeden Zweifel mit ihrem freundlichen Wesen in ihren Bann zieht!

Eigentlich ist es nasskalt und ungemütlich, doch Gretel versprüht eine wohlige positiv Energie, die alle äußeren Einflüsse einfach ausblendet und schlicht verblassen lässt. 

Sicher ist es so, dass sie sich freut, auf deutsche zu treffen und die Sprache ihrer Kindheit zu sprechen.

Sicher ist es so, dass wir uns unerwartet sehr freuen auf einen so besonderen Menschen zu treffen!

Am Ende ist es wohl das, was unsere Art des Reisens ausmacht: Unerwartet auf ganz besondere Menschen treffen.

Gretel, 1942 mitten im Krieg in Österreich geboren, direkt nach dem Krieg mit den Eltern nach Argentinien emigriert, die Eltern nach 15 Jahren zurück nach Österreich, sie als Lehrerin alleine im La Plata Delta, später am Goethe Institut in Buenos Aires. Trifft früh´ im Leben den Russen (!) Nikita, verliebt sich und folgt seinem ursprünglichen Leben in der Einsamkeit des LAGO VINTTER. Lange Zeit eine Fernbeziehung, gesehen haben die beiden sich damals nur in ihren Schulferien.

Vor fünf Jahren, im November 2017, ist Nikita gestorben. Gretel hat seine Asche unter einer Tanne am gemeinsamen Haus mit Blick auf den wohl besten aller Argentinischen Seen begraben.
So ist er immer bei ihr, wenn sie im Sommer am LAGO VINTTER ist. Ein richtiges Zuhause hat Gretel aber nicht. Eine Wohnung in Buenos Aires, ein kleines Haus auf einer Insel im La Plata Delta und eben dieses kleine Haus, eher eine gute Hütte, am LAGO VINTTER.
Geheizt und gekocht wird mit Holz, Strom macht ein Windgenerator und ein Solarpanel. Die Verkabelung hat ein ehemaliger Schüler von ihr gemacht. Der ist zufällig auch gerade da. Zum Angeln auf dem See. Zuvor hat er 17 Jahre bei SIEMENS gearbeitet und war beruflich auch öfters in Deutschland. Perfektes Deutsch. Sehr geschliffene Umgangsformen hat der Mann.

Am Lago Vintter, Argentinien

Im Umkreis von vielleicht 30 Kilometern um den LAGO VINTTER leben in diesem Moment höchstens 50 Menschen.

Macht sie das so besonders?

Am nächsten Tag pickt uns Gretel auf unserem Morgenspaziergang entlang des Weges auf und bietet uns an, eine kleine Tour in ihrem Auto zu machen. Sie zeigt uns eine besondere Grabstelle eines Menschen, der der erste in dieser Gegend gewesen sein soll. Irgendwer kümmert sich seit Jahrzehnten um die Grabstelle. Einmal sei die kleine Hütte unter der Schneelast im Winter einfach zusammengefallen. Und wiederaufgebaut. Sie zeigt uns den See LAGO LOS NINOS, der auf unserer Karte gar nicht erst verzeichnet ist.

Gretel steckt voller Geschichten, Erzählungen und Erklärungen. Mit Leib und Seele ohne jeden Zweifel eine Lehrerin halt.

Sie berichtet vom Subventionsirrsinn, mit dem die Aufzucht von Fichten in dieser Gegend gefördert wird. Die nehmen aber den eingeborenen, für die Gegend viel wichtigeren Buchen das Wasser weg. Geld ersetzt nie Hirn.

Schwäne mit schwarzen Hälsen auf dem Lago Los Ninos, Argentinien

Sie erzählt von den 1960igern, in denen ein Unternehmer versuchte, eine Holzwirtschaft in dieser Wildnis zu errichten. Damals habe man die jetzige Piste in den Urwald getrieben. Ein kleines Dorf mit 160 Menschen entstand am See. Die Arbeiter haben große Holzflöße mit einem Schlepper über den See gezogen, um Nachschub für die Holzfabrik zu liefern. Manchmal, wenn der ohnehin starke Wind viel zu stark wurde, mussten sie tagelang in Lee der einzigen Insel auf dem See verharren und Hunger leiden. Irgendwann setzte man einfach Hasen auf der Insel aus die sich rasend schnell vermehrten. Fortan war der Hunger gebannt und die Insel bekam ihren jetzigen Namen: Haseninsel.
Doch das Holzgeschäft kam nie so richtig in Gang und irgendwann verschwand das Arbeiterdorf am See einfach wieder, doch die Piste zum See blieb.

Jetzt gibt es neben dem NIKITA Campingplatz und der NIKITA Lodge nur noch eine richtige Polizeistation. Denn die Grenze zu CHILE ist nur 16 Kilometer entfernt und man weiß ja nie, was von da kommen mag?

Die Touristen, die jetzt kommen „verirren“ sich hierher (so wie wir) oder sie kommen zum Fischen. Denn der See ist voll von Fisch. Niemand bewirtschaftet das große Gewässer.

Unberührte Natur. Pur.

Zum Abschluss der kleinen LAGO VINTTER Tour zeigt uns Gretel ihr kleines Haus. Einfachste, aber praktische Verhältnisse. Die Küchenstube könnte wohl auch irgendwo in Österreich auf einer Alm stehen. Der Ofen bollert den ganzen Tag vor sich hin obwohl es tagsüber draußen warm genug ist.
Während wir staunen, wie einfach man leben kann, kommen Gäste aus der NIKITA Lodge und bringen selbst gemachtes SUSHI vorbei. Donnerknittel, jetzt bekommen wir auch noch was zu essen! Passt aber gut, schließlich hat uns Gretel ja vor unserem Frühstück vom Weg eingesammelt und in ihre fabelhafte Welt entführt.

Tatsächlich haben wir nicht nur Appetit.

Wir haben Hunger!

Keiner weiß genau warum, aber an Gretels Haus ist die Internetverbindung am besten. Daher kommen immer alle Gäste mit ihren coolen PickUps hierher, um sich mal kurz zu Hause zu melden. Der Techniker im Geiste hat sich die Sache natürlich erklären lassen: Eine private Richtfunkstrecke verbindet die NIKITA Lodge und den NIKITA Campingplatz mit dem nächstgelegenen Ort RIO PICO. Über drei Stationen. Und die Station an Gretels Haus ist die letzte auf dem langen Weg zum Dorf.

Obwohl Gretel und Nikita bereits seit Mitte der 80iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hier alles aufgebaut haben, konnten sie damit keine Reichtümer erwirtschaften. Ihre Lehrerrente bessert sie nun durch den Verkauf von selbst gemachten Vodka auf. Der schmeckt wirklich sehr lecker! Für den Verkauf hat sie sogar hübsche Weinflaschen, Korken und ein eigenes Etikett organisiert. 

Nikita Vodka, nur echt, wenn er vom Lago Vintter, Argentinien stammt.

Nach drei Nächten wissen wir, das wir weiterziehen werden.

Weiter, immer weiter. Das ist unsere Art zu reisen.

Fernando und Gretel brechen an unserem Abreisetag auch früh´ auf. Neue Gäste für die Lodge aus ESQUEL abholen.

Das sind auch deutsche.

Fischer aus Hamburg.

Peter.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert