Erster Todestag Peter Samuelsen

„Wirklich Tod ist man nur wenn sich keiner mehr an einen erinnert“

In Erinnerung an meinen ehemaligen langjährigen Geschäftspartner Peter Samuelsen, der vor genau einem Jahr, am 22. September 2023 gestorben ist.

Wann haben wir uns eigentlich zum ersten Mal getroffen?

Leider bleibt das wohl auf ewig unklar, in Frage kommen wohl nur die Jahre 1996, 1997 oder 1998?

Eher Mitte 1996.

Zu dieser Zeit war ich als Softwareentwickler bei einer großen Hamburger Unternehmensberatung angestellt, schon das zweite Mal. Rückkehrer nach einem knapp fünfjährigen Abenteuer in einer Düsseldorfer Werbeagentur. Lernkurve: In einer Werbeagentur kann man seriös keine Software entwickeln. Diametral unterschiedliche Vorgehensweisen.

Die Unternehmensberatung in Hamburg hatte in etwa 1.000 Mitarbeiter, viele davon arbeiteten vor Ort bei ihren Kunden. Wir nicht. Wir hatten unser Büro im Erdgeschoss eines modernen Bürohauses inmitten einer schicken Wohngegend. Irgendwann meinte mein damaliger Chef ich möge mich mal bitte mit einem neuen Kollegen treffen. Der habe in einem anderen Bereich gerade angefangen und wolle wissen wie man denn wohl Software für dieses neue Internet entwickeln könne?

Software für das Internet.

Der neue heiße Scheiß!

Damals.

Heute KI. Genauso hysterisch.

In der Werbeagentur hatten wir zuvor bereits die weltweit erste VW Internetseite gebaut und es damit sogar in einen Artikel des SPIEGEL´s geschafft. Auch für andere Kunden hatten wir erste mehr oder weniger statische Internetseiten gebaut. Aus heutiger Sicht technologisch weit, sogar sehr weit weg, irgendwo in einer herrlich einfachen technologischen Steinzeitgegend, aber damals an der Speerspitze einer weltverändernden Technologie.

Nun denn.

Wie sich heraus stellte war Peter Samuelsen auch ein Rückkehrer. Auch er war eine Zeit lang in der großen Unternehmensberatung angestellt um danach in einer Spedition eine führende Rolle in deren IT zu übernehmen. Nach ein paar Jahren auf Kundenseite kehrte er also nun wieder zurück auf die Dienstleisterseite.

Einer seiner zahlreichen klugen Merksätze, die mit wenigen Worten eigentlich alles ausdrückten: „Dienstleister kommt von DIENEN und LEISTEN!“

Sein gerade bezogenes Eckbüro war recht klein, verglichen mit dem Büro meines Chefs. Beide lagen nach hinten zur besseren Seite, von der Straße weg, hinaus mit einem schönen Blick auf das umgebende Grün des Goldbekkanals in Hamburg. Im Sommer konnte man auf dieser Bürogebäudeseite bei geöffneten Fenstern sehr entspannt über die Abgründe moderner Softwareentwicklung nachdenken.
Trotz der relativen Enge seines Büros hing ein großes Whiteboard an der Wand und ein Flipchart stand mitten im Raum. Beides unerlässliche Arbeitsutensilien am Ende des vergangenen Jahrhunderts.

Er selbst wirkte sportlich, wenig, oder jedenfalls sehr kurze Haare, hohe Stirn, sehr freundliches, gewinnendes Lächeln und für eine hanseatisch dröge Unternehmensberatung relativ farbenfroh angezogen. Grünes oder blaues Jackett, auf jeden Fall eine schrill bunte Krawatte. Damit sah er schon von weitem anders aus als all die anderen in seinem Stockwerk. Ich selbst trug zu dieser Zeit nur zu Kundenterminen einen (natürlich) dunklen Anzug, im Büroalltag eher Jeans und Hemd.

Nach der Erinnerung war unser allererstes Gespräch eher eine einseitige Druckbetankung denn ein Dialog. Peter Samuelsen wollte tatsächlich schlicht nur das Eine wissen:

Wie macht man Software für das Internet?

Einfach nur ein weiterer freundlicher, eloquenter neuer Kollege?

Von wegen. Eher neuer Chef, aber das wusste zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht mal er, geschweige denn ich.

In den nächsten Monaten dämmerte mir dann, dass Peter Samuelsen nicht einfach nur ein neuer Kollege war. Nein, ganz offensichtlich sollte er unsere, von außen betrachtet, etwas verschlafene Abteilung (genau genommen waren wir eine eigenständige GmbH, die aber zu 100% der Unternehmensberatung gehörte) auf Vordermann bringen. Denn da gab es das kleine Problem eines Null-Wachstums.

Klassische Klemme in die real existierende Unternehmen leicht geraten können:
Bestandstechnologie trifft auf Technologiesprung, sicheres Bestandskundengeschäft mit vertrauter Technologie vs. risikobehaftetem Neukundengeschäft in einem absoluten technischen Neuland.

Klassisch, weil das schon immer so war. In der Industrie früher Fernseher und Kameras, heute Autos.

Wir alle in dieser Abteilung verdienten gutes Geld mit der Programmierung von BTX Anwendungen (Bildschirmtext, wenn man so will der online Vorläufer des Internets in Deutschland) für Großkunden. Technisch hochkomplex, unglaublich spezialisiert. Trotzdem oder gerade deswegen hatte dieses frühe deutsche Onlinenetzwerk seit Jahren nur eine stagnierende Reichweite von gerade mal 300.000 Endkunden die daran angeschlossen waren und so bereits mit unseren Großkunden elektronisch kommunizieren konnten.

Genau genommen entwickelten wir bereits zu dieser Zeit Anwendungen, die auch heute noch tragende Rollen im aktuellen Internet spielen: Bestellsysteme (eCommerce), Chatsysteme (Social Media, Messanger) oder auch einfach auch nur klassische Spiele (Poker, Roulette).

Allein, BTX war für all das schlicht die falsche, weil viel zu aufwendige technologische Basis, ein eilig ins Leben gerufener Facelift mit Namen KIT, getrieben durch das Aufkommen des Internets, blieb erfolglos, führte aber dazu, dass man sich eine Zeitlang mit gleich drei Onlinetechnologien als kleiner Softwerker beschäftigen musste.

Das neu um die Ecke kommende Internet eröffnete da schon viel interessantere, viel einfachere Möglichkeiten. Die Anforderungen an die Hard- und Software der Endkunden waren erfüllbar. Die zu Grunde liegenden Kommunikations- und Layoutprotokolle einfacher. Der erste Internetbrowser MOSAIC lief eigentlich auf jedem normalen WINDOWS 3.11 Rechner, wenn er denn mittels Modem oder Akustikkoppler telefonisch online gehen konnte.

Nur wenige in Deutschland ahnten wohl, was online technologisch nun möglich werden würde. Peter Samuelsen ahnte es vermutlich nicht nur, denn er hatte recht schnell einen Plan.

Ein weiterer oft von Peter Samuelsen zitierter kluger Merksatz: „In jeder Krise steckt auch eine Chance“ (BTX = Krise, Internet = Chance)

Unternehmensberatungen leben bekanntlich vom Zahlungseingang, brauchen also immer Kunden, die bezahlen. Eigenentwicklungen oder Forschung und Entwicklung sind in so einem SetUp nahezu unmöglich denn es geht ausschließlich um maximale Rendite.

Sein einfacher Plan:
Den BTX Bestandskunden der Unternehmensberatung klar machen, dass man jetzt auch ins Internet einsteigen müsse, um ganz vorne mit dabei zu sein bevor andere in die Lücke springen würden! Wenn möglich entlang des Weges natürlich auch Neukunden für diese neue Technologie einsammeln.

Während mein damaliger Chef vermutlich davon ausging, mit BTX in die Rente zu kommen setzte Peter Samuelsen mit diesem nie kommunizierten Plan den Blinker zur Überholspur an. Das führte schnell zu der etwas komplizierten Situation, das ich das Gefühl hatte, zwei Vorgesetzten gleichzeitig dienen zu müssen. Beide operierten an den gleichen Kunden, sprachen sich aber kaum ab und von mir wollten sie hinterher immer wissen was der andere gerade macht.

Ich erinnere mich an zwei recht intensive vier-Augengespräche mit den beiden in denen ich mein großes Unwohlsein, das klassische Gefühl zwischen Stühle gesetzt zu werden, artikulierte. Denn das war ja wohl schnell klar: Noch nicht mal zwanzig Indianer brauchen nicht zwei Häuptlinge.

Der erste gemeinsame Kundentermin mit Peter Samuelsen bei einem (damals) großen Buchhändler, seit Jahren unser BTX Bestandskunde, war einfach nur eine Erleuchtung. Niemals zuvor und genau genommen auch nicht später hatte ich einen besseren, stärkeren, eloquenteren, kompetenteren und erfolgreicheren Software Vertriebler im Kundengespräch erlebt!
Sicher, in meinem Düsseldorfer Werbeagenturchef hatte ich zuvor einen fesselnden visionären Charismatiker erleben dürfen, doch wie ich lernen musste, verdienen die in der Regel leider dauerhaft kein Geld.

Schnell gelang es Peter Samuelsen die Verantwortlichen bei dem Buchhändler davon zu überzeugen ernsthaft in dieses neue Internet zu investieren. Zufall, Glück, Vorsehung oder was auch immer: Er traf auf einen jungen extrem klugen Doktorand der bereits bei dem Buchhändler genau mit diesem Thema betraut war. Herausfinden, wie man das seit Jahrzehnten existierende Kataloggeschäft (Kunde bekommt per Briefpost einen Katalog, wählt darin Produkte aus die er kaufen möchte, trägt die Artikelnummer in eine vorbereitete Postkarte ein und sendet diese dann per Briefpost an den Buchhändler zurück der dann ein Paket mit den bestellten Büchern packt, die Rechnung stellt und beides per Paketpost zum Kunden sendet) in diese neue Onlinewelt des Internets transportieren könnte.

Ein kleines Stück der technischen Lösung gab es bereits online: Der reine elektronische Bestellweg online über unsere BTX Programme. Die Kunden tippten die Bestellnummern aus dem Katalog in ein BTX Formular ein und übermittelten die Bestellung so elektronisch an den Buchhändler. Immerhin.

Gemeinsam entwickelten wir an dem Flipchart in Peter Samuelsens Büro eine EXCEL basierte Methode zur nachvollziehbaren Angebotserstellung von komplexen Softwareprojekten. Viele Angebote und einige Projekte später fand ein anderer heraus, dass wir tatsächlich eigenständig die bereits lange existierende „PERT Dreipunkt Schätzung“ einfach nochmal an diesem mitten im Raum stehende Flipchart in einem kleinen Büro erfunden hatten. Was wohl beweist, dass man unter ähnlichen Voraussetzungen zu ähnlichen Ergebnissen kommen kann.

Na ja, GOOGLE gab es noch nicht als dass man darüber schon etwas hätte finden können. Die ultimative Suchmaschine dieser Zeit hieß im übrigen ALTAVISTA, eine andere Geschichte.

Diese „PERT Dreipunkt Schätzung“ wurde fast zwei Jahrzehnte unverändert für unzählige Angebote von uns verwendet. Die Einzelschätzungen (Zeilen) trafen selbstverständlich nie so wie geschätzt ein, doch im Großen und Ganzen passte die daraus resultierende Angebotssumme zu den tatsächlichen Aufwänden und ermöglichte so ein solides, gesteuertes und erfolgreiches Projektgeschäft.

Nur einmal bin ich unfreiwillig von dieser Vorgehensweise abgewichen. Auf dem Sidepunkt des Internethypes schickte mich Peter Samuelsen überraschend nach NEW YORK. Die IT Abteilung von unserem großen Buchhändlerkunden sollte am teuersten Ort der Erde, am Broadway in Manhattan, dem in den Kinderschuhen steckenden Startup AMAZON Paroli bieten und eine weltweit verfügbare eCommerce Lösung für den Verkauf von Büchern entwickeln.
Selbstverständlich wusste keiner irgendwas Genaues, ein Aufwand für was auch immer, ließ sich nicht abschätzen. Also einfach mal ein paar Leute für ein Jahr anheuern und schwups, hatte ich einen Projektetat von 2 Millionen US$ an der Backe. Völlig unseriös. Völlig irre. Peter Samuelsen kannte mich schon zu gut als dass er meinem Wunsch nach schneller Heimkehr widersprach.

Peter Samuelsen war studierter Informatiker, hatte in der Vergangenheit selbst jahrelang Software entwickelt und war stets auf der Suche nach der „einfachen Lösung“. Aus dieser Erfahrung bezog er seine solide technische Kompetenz gegenüber Kunden, aber auch gegenüber Mitarbeitern, die manches mal erklären mussten, warum das Projekt obwohl versprochen noch nicht fertig war oder wieso es zu einem folgenschweren Fehler kommen konnte.

Entsprechend wirklich interessiert und motiviert brachte er sich zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit auch immer in die technische Lösung der von ihm verkauften Projekte ein. Deutlich mehr als einmal blieb er völlig verständnislos da wir in unseren ersten Internetprojekten keine Datenbanken einsetzten. Mit Datenbanken und klugen Datenmodellen kannte er sich wahrlich sehr gut aus.
Noch aus unserer BTX Welt kommend verwendeten wir Anfangs für die ersten eCommerce Lösungen Server der Firma „digital equipment“ mit deren Betriebssystem „VMS“ und der Programmiersprache „PASCAL„. „VMS“ brachte ein sehr leistungsstarkes Dateisystem von Hause aus mit. Damit konnte man komplexe, auch sehr große Datenbestände recht komfortabel einfach in mehreren indexsequentiellen Dateien unterbringen und auch noch schnell darauf zugreifen.
Diese ihm unbekannte Welt von „digital equipment“ war Peter Samuelsen zu exotisch, suspekt gar. Aus seiner Sicht war das nicht Stand der Technik und so missionierte er das ganze Team endlich auch mal „richtige“ Datenbanken einzusetzen.

Dieser Einsatz des Sachverständigen Missionars zeugte wirklich von Weitblick, denn in späteren, viel (viel) größeren Internetprojekten wären wir ohne „richtige“ Datenbanken komplett gegen die Wand gefahren. So konnten wir schon auf Jahre der Erfahrung zurück greifen.

Auf der Suche nach der „einfachen Lösung“ zitierte Peter Samuelsen gerne und häufig die Büroklammer oder den Weltraum:

„Wie kann ein einfaches Stück Draht, geschickt gebogen, ohne weitere Hilfsmittel zehn Seiten Papier zusammen halten?“

„Warum mussten die Amerikaner in ihrem Weltraumprogramm aufwendig Kugelschreiber erfinden, die auch in der Schwerelosigkeit funktionierten, während die Russen einfache Bleistifte verwendeten?“

Solche einfache Geschichten liebte Peter Samuelsen. Und er liebte es, komplexe Sachverhalte, egal ob technisch, kaufmännisch oder juristisch auf einen einfachen, für alle nachvollziehbaren Nenner zu bringen und dadurch zu einer guten Lösung zu kommen.

Peter Samuelsen und ich hatten ein sehr gutes Arbeitsverhältnis. Klare Sprache, schnelle Gespräche, auf den Punkt kommend. Nur bei einem Thema gerieten wir regelmäßig aneinander, er kontrolliert mit hochrotem Kopf, ich wild emotional, vermutlich auch mit rotem Kopf: Die Bezahlung von Überstunden.
Er wollte nie akzeptieren das wir in unserem Bereich (aus seiner Sicht) alte Arbeitsverträge hatten. Diese sahen eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden und dafür ein individuell ausgehandeltes Gehalt vor. Keine Regelung bezüglich Überstunden, das Wort selbst existierte nicht mal in den Verträgen.
Das war in der Unternehmensberatungsbranche wohl eher unüblich, glaubte man Peter Samuelsen. Er war der Ansicht das bei unseren (aus seiner Sicht, Zitat) „fürstlichen Gehältern“ selbstverständlich alle geleisteten Überstunden mit dem Gehalt abgegolten wären!

Nun, es ging in dieser Zeit ja nicht nur um ein paar Überstunden, sondern um 60, 80 oder 100 und mehr. Im Monat! Softwareentwickler sind in der Regel gut denkende Menschen, denn sie werden ausschließlich dafür bezahlt, dass sich etwas Kluges zwischen ihren Ohren befindet. Und wenn faktisch jede geleistete Stunde vom Kunden bezahlt wird und die vielen Überstunden ja nur anfallen, weil es nicht genug andere Köpfe gibt, die diese Aufgaben übernehmen können, dann fehlen einem Vorgesetzten wohl jegliche Argumente um die Bezahlung von Überstunden zu verweigern.

Diese frühe Episode sei als Beispiel dafür erwähnt das Peter Samuelsen im allgemeinen guten Argumenten folgen konnte und wir später allgemein gültige, einfache, nachvollziehbare und faire Regeln für dieses Dauerbrennerthema in unserer Branche fanden. Denn am Ende lenkten solche Themen nur von der Hauptaufgabe ab: Schnell gute Internetprojekte abliefern.

Alle, wirklich alle in unserem Team brannten für die neue Internettechnik, für die Projekte die die Welt, zumindest den Handel in Deutschland verändern sollten. Nach etwa einem Jahr (?) verließ mein ursprünglicher Chef das Unternehmen, BTX spielte absolut keine Rolle mehr und Peter Samuelsen übernahm offiziell die Leitung unserer Abteilung.

Und während wir Softwareentwickler gefühlt rund um die Uhr arbeiteten und unseren Kunden so halfen ganz, ganz vorne im Internetgeschäft dabei zu sein plante Peter Samuelsen schon den nächsten, absolut folgerichtigen Schritt:

Die Gründung eines eigenständigen auf Internetsoftware spezialisierten Unternehmens. 

Doch genug für heute, denn das, meine lieben Leser, wäre eine weitere Geschichte.

Also erhebe ich nun mein Glas und trinke den edelsten im Haus befindlichen Tropfen in Andenken an den Mann, der mich maßgeblich geprägt hat.

Cheers!

Auf Peter Samuelsen!

Peter.

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